Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Seit einem Jahr herrscht Krieg in der Ukraine. Ein Krieg, der einseitig von Russland begonnen wurde und der mit großer Brutalität geführt wird. Der 24. Februar 2022 markiert eine tief einschneidende historische Zäsur. Ein Angriffskrieg in der Mitte Europas. Mit Entsetzen und Erschütterung betrachtet auch der Vorstand der Deutsch-Russischen Juristenvereinigung (DRJV) den russischen Angriffskrieg und die schrecklichen Auswirkungen, die dieser Krieg auf die Menschen nicht nur in der Ukraine hat. Völkerrechtsverletzungen der russischen Streitkräfte geschehen tagtäglich. Neben dem zu beklagenden Leid der betroffenen Menschen, Soldaten und in unverantwortlicher Weise der Zivilbevölkerung, stellen sich Juristinnen und Juristen der juristischen Dimension von Krieg, Vertreibung und Exil. Dabei geht es nicht nur um die Verbrechen in der Ukraine selbst, es geht auch um die immer stärkere Unterdrückung in Russland, die Zerschlagung noch vorhandener, autonomer zivilgesellschaftlicher Organisationen, um die Eliminierung der freien Meinungsäußerung, die Zerstörung der Beziehungen zum Ausland und vieles mehr.
Vor einem Jahr hat der Vorstand der DRJV unmittelbar bei Kriegsausbruch eine eindeutige Erklärung zum Angriffskrieg Russlands in der Ukraine veröffentlicht. Die Erklärung wurde im Juni 2022 auf Beschluss der Mitgliederversammlung ohne Gegenstimme als „Frankfurter Erklärung der DRJV zum Rechtsdialog mit Russland in schwerer Zeit“ bekräftigt.
Anfang Februar 2023 hat der Vorstand der DRJV eine Klausurtagung in Göttingen abgehalten. Die juristische Einschätzung des Krieges und der Auswirkungen auf die Arbeit der DRJV waren Themen einer sehr ausführlichen und – bei aller grundsätzlichen Einigkeit in der Bewertung des Kriegsgeschehens – teilweise auch konträren Debatte. Der Vorstand der DRJV hat in Göttingen entschieden, aus Anlass des Jahrestages des Kriegsbeginns die folgende Erklärung zu veröffentlichen.
Göttinger Erklärung des Vorstands der Deutsch-Russischen Juristenvereinigung (DRJV) zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine am 24. Februar 2023
Der russische Angriff auf die Ukraine stellt einen gravierenden Verstoß gegen das Völker-recht dar. Die Art der russischen Kriegsführung in der Ukraine verletzt zahlreiche Normen des internationalen wie des eigenen, russischen Rechts. Gezielte Angriffe auf die zivile Infrastruktur stellen Kriegsverbrechen dar. Berichte über Massaker, Folter, sexualisierte Gewalt und Deportationen deuten in dieselbe Richtung und bedürfen sachkundiger Dokumentation, Beweissicherung und objektiver Aufarbeitung.
Die bereits 2014 erfolgte Annexion der Krim und die neuerliche Annexion weiterer Teile der Ukraine (Donezk, Luhansk, Cherson, Saporischschja) auf der Grundlage haltloser Argumente und gestützt auf Scheinreferenden sind Ausfluss imperialen Strebens, das Europa so tief wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erschüttert. Sie sind völkerrechtlich inakzeptabel, wurden von der UN-Generalversammlung mit überwältigenden Mehrheiten als völkerrechtswidrig zurückgewiesen und sind von keinem souveränen Staat anerkannt worden.
Auch in Russland werden immer repressivere Gesetze in offensichtlichem Widerspruch zur eigenen Verfassung verabschiedet. Die Teilmobilisierung junger Männer erfolgte in gegen eigene Gesetze verstoßender Weise, das Recht auf Wehrdienstverweigerung wird missachtet. Oppositionelle Stimmen werden scharf verfolgt und zivilgesellschaftliche Organisationen zerschlagen. Die Meinungs- und Informationsfreiheit existiert in Russland nicht mehr. Diese Entwicklungen haben zu einer Auswanderungswelle historischen Ausmaßes geführt.
Wir, der Vorstand der DRJV, befassen uns – wie auch sehr viele unserer Mitglieder – mit hoher Dringlichkeit mit den Rechtsfragen des Krieges gegen die Ukraine, mit den Sanktionsregimen, mit Fragen der Fortsetzung oder der Beendigung wirtschaftlicher Zusammenarbeit, mit den juristischen Aspekten der Migration und vielen anderen rechtlichen Themen in diesem Zusammenhang. Wir haben die Fragen der Rolle der DRJV in dieser Zeit und der Grundlagen unserer zukünftigen Arbeit in aller Ausführlichkeit analysiert und diskutiert.
Wir kennen den Wunsch unserer Mitglieder, die Arbeit der DRJV trotz der dramatischen Veränderungen engagiert fortzusetzen. Dennoch gibt es unbestreitbar Grenzen einer Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in Russland, die früher so nicht existiert haben. Eine institutionelle Zusammenarbeit mit russischen akademischen oder berufsständischen Einrichtungen ist zurzeit ausgeschlossen.
Gleichwohl stehen wir einem Rechtsdialog auf rechtsstaatlicher Basis und in qualifizierter Form weiterhin offen gegenüber. Damit ein solcher Dialog Sinn hat, muss eine Einigkeit über grundlegende Rechtsprinzipien gegeben sein. Dabei sehen wir auch unsere Verantwortung, russische Kolleginnen und Kollegen nicht in Gefahr zu bringen, nur weil sie freundschaftliche, berufliche Kontakte zur DRJV beibehalten oder herstellen wollen.
Für die weitere Tätigkeit der DRJV bedeutet dies, dass wir die rechtlichen Veränderungen in Russland, sowohl hinsichtlich der Rechtssetzung wie auch der Rechtsanwendung genauestens beobachten und Rechtsverstöße deutlich benennen werden. Schwerpunkte unserer Aktivitäten werden im Verfassungsrecht, Völkerrecht, Völkerstrafrecht und anderen Rechtsgebieten liegen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Krieg stehen. Die Einrichtung eines Sondertribunals oder die mögliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag werden wir aus rechtlicher Perspektive beobachten. Wir werden auch die Gesetzgebung Russlands weiter verfolgen, wobei wir besondere Aufmerksamkeit dem Schutz der Grundrechte und der bürgerlichen Freiheiten widmen. Wirtschaftliche Zusammenarbeit, soweit noch möglich, und Sanktionsrechtsfragen gehören weiterhin zum Kernbereich unserer Aktivitäten. Den ins Ausland geflüchteten russischen Kolleginnen und Kollegen wollen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Unterstützung in migrationsrechtlichen Fragen und bei der Beschäftigungssuche bieten.
Um insbesondere junge Juristinnen und Juristen aus Russland mit dem deutschen Rechtssystem vertraut zu machen, bieten wir weiterhin unsere Schulen und Einführungen zum deutschen Recht in russischer Sprache an.
Wir sind der festen Überzeugung, dass nur rechtsstaatliche Prinzipien Leitlinien für politisches Handeln sein können. Nur so kann der Frieden in Europa wiedergewonnen werden. Unser tief empfundenes, herzliches Mitgefühl gilt allen Opfern dieses schrecklichen Krieges.
Deutsch-Russische Juristenvereinigung e.V.
Beschluss des Vorstands
Februar 2023